"Rohschnitt Peter Brötzmann"

S.Morgenthaler (Basel, 2021)

 

Zu Rohschnitt Peter Brötzmann von Peter Sempel
Ein Film mit und nicht über Peter Brötzmann, in seiner Musik und nicht über sie.
Sempels Rohschnitt ist eine filmische Begehung von Brötzmanns Kraterlandschaft, zuweilen über
Geröll stolpernd, dann entlang der musikalischen Klüfte, plötzlich schutzlos in der Eruption, oft
ganz ruhig, fast nebenbei, aber immer mitten im Geschehen, gerade wenn nichts geschieht. Und
oft geschieht nichts, oder vielmehr nicht das, was man gewohnheitsmässig erwartet.
Es sind Perspektiven des Publikums, die direkt in den Film eingehen, der Blick fokussiert zwar
die Musizierenden, ist aber gleichermassen wach für die Zufälle der Umgebung, für die Räume
und Realitäten, in denen die Musik stattfindet. Sempel widersetzt sich der Logik des Rampen-
lichts, und kommt damit dem Protagonisten Brötzmann umso näher: Er filmt Szenen, Szenerien,
fast nie Inszenierungen, er stösst auf Situationen, nicht auf Settings. Keine polierten Konzertauf-
nahmen, dafür viel Musik. Keine gut ausgeleuchteten Interviewsequenzen, die Gespräche und
Begegnungen finden beiläufig statt, überlagern sich mit der Musik, verschieben sich ins Alltägli-
che: Signieren, Händeschütteln, der Soundcheck, Reisebilder, der heimische Garten.
Dass Sempel auf seinem Trip mit Brötzmann keiner strengen Chronologie folgt, nicht nacher-
zählt, sondern die Odyssee elliptisch und zirkelnd montiert, macht den Film besonders unmittel-
bar: In dessen Brüchen und Sprüngen werden die Brechungen der Welt in unabseh-, aber sicht-
barer Weise produktiv – hier klingt Brötzmanns brachiale, zuweilen skurrile, immer aber auf-
merksame Musik mit. Es ist ein intimer Film, weil sich Sempel als Zuschauer, als Zuhörer nicht
ausblendet. Manchmal gibt er sich der Drift hin, schweift ab, verlässt filmend das Konzertlokal,
man hört seinen Atem, eine Katze im Hinterhof, ein zufälliger, subtiler Kontrapunkt zur Musik,
die noch immer da ist. Manchmal greift er ein, greift nach einer Schallplatte, invadiert ungefragt,
fragt nach. Oft beobachtet er nur, dokumentiert mit dem Auge für das Wesentliche, heisst: für
das Nebensächliche.
Ist es ein Filmessay, ein Dokumentarfilm, ein Porträt, ein Roadmovie? Dass sich Rohschnitt nicht
zuordnen lässt, ist nicht Resultat einer Unentschiedenheit, sondern Programm: Kultur entsteht
nicht erst im Feinschnitt, sondern im rohen Material der Brechungen und Widersprüche, mit dem
man konfrontiert ist. Es ist aber ein Film diesseits solch lauter Parolen, eigentlich ein stiller Film,
dem man, läuft der Abspann, noch weiter folgen möchte, in die Welt hinaus.
(Morgenthaler, Basel, Nov.2021)